„Die neue soziale Frage – sozialpolitische Konzepte in ethischer Sicht“

Veröffentlicht am 25.07.2016 in Standpunkte

Am 25.7. hatte der AKC Prof. Matthias Möhring-Hesse (Lehrstuhl für Sozialethik, katholische Theologie, Tübingen) und Dr. Lars Castellucci, MdB in die Friedensgemeinde Stuttgart eingeladen. Es war ein interessanter Vortrag des Sozialethikers und eine engagierte Diskussion mit dem Realpolitiker sowie ca. 20 Mitgliedern des Arbeitskreises.

I. Impulsreferat von Prof. Möhring-Hesse zur These "Die soziale Frage kann befriedet, bewältigt, aber nicht gelöst werden".

Dahinter liegende Einsicht des 19. Jh. (Pauperisierung, Industrialisierung, Erwerbsarbeit und Arbeiterfrage): Die entsprechenden Probleme haben strukturelle Ursachen, die nur gesellschaftlich gelöst werden können. An den Verwerfungen können Gesellschaften kaputt gehen. Die SPD arbeitet sich an diesem Problem immer wieder neu ab. Erste Antwort im 19. Jhdt. – der fürsorgliche Sozialstaat (Bismarcks Sozialgesetzgebung, Schutz vor Arbeitslosigkeit in der Weimarer Republik).

Neue soziale Frage, in den 70-er-Jahren aufgeworfen (Heiner Geißler und der Sozialkatholizismus): Es geht nicht nur um Strukturreformen, sondern der Sozialstaat muss genutzt werden, um soziale Fragen bewältigbar zu machen, z.B. Grundversorgung gewährleisten durch Umverteilung – ein „überaus erfolgreiches Modell bis heute“!

BK Schröder stellte das Konzept des Sozialstaates um auf gesellschaftliche Zugehörigkeit und damit auf die Frage von Integration und Inklusion: Erfolgreiche Zugehörigkeit bedeutet Beschäftigung und Zugang zu Bildung. Die Gleichheitsfrage wurde damit zurückgestellt, was zu einer größeren „Ungleichheitstoleranz“ führte. Die Leistungssysteme wurden auf ein „Grundversorgungssystem“ umgestellt (Hartz-Reformen); es ging (z.B. bei der Rente) nicht mehr um „Statussicherung“, mit dem Effekt, dass Eigenvorsorge komplementär zur staatlichen Sicherung nötig und erwartet wird  (Schweizer Modell).

Im Augenblick kippt es wieder um in Richtung ausgleichende Sozialpolitik, da die soziale Ungleichheit massiv zugenommen hat.

Was versteht man unter sozialen Ungleichheiten?

Einerseits gibt es ein Gefüge von sozialen Positionen, Lebenslagen, die als soziale Ordnung vorgegeben sind. Unterschiedliche Lebensmöglichkeiten bedeuten aber auch unterschiedliche Verteilung von Rechten und Freiheiten, womit wiederum unterschiedliche Machtpositionen verbunden sind, was sich wechselseitig  „dynamisch aufstaut“ und zu einer Gefahr für die Gesellschaft wird.

Ungleichheit wurde zunächst ökonomisch fundiert gesehen (Bedingung des Produktionskapitals, realisiert im Arbeitsvertrag). Immer mehr wurde aber gesehen, dass andere Dimensionen eine große Rolle spielen (Theoretiker Pierre Bourdieu), z.B. Geschlecht, Abstammung, Bildung, kulturelles Erbe. Dazu kam, dass die Erwerbsarbeit wurde mit der sich aufstauenden Massenarbeitslosigkeit in den 90-er Jahren „verfehlt“ wurde, und damit stellte sich wieder die Armutsfrage. Sie wurde jetzt aber, im Unterschied zum 19. Jhdt., „tiefgreifender“ gestellt: Armut bedeutet Exklusion, mangelnde Teilhabe, das Gefühl, nicht vollwertig zur Gesellschaft zu gehören. Die Schere zwischen Arm (im umfassenden Sinn) und Reich geht bekanntlich immer weiter auseinander, was zu einer sich immer verschärfenden Exklusion an beiden Polen führt, unten und oben. Dramatisch ist aber die Exklusion oben, bei den Superreichen, deren Lebensstil weit außerhalb dessen liegt, was gesellschaftlich verantwortbar ist, denn sie sind nicht mehr solidarisch in den Staat eingebunden (z.B. Steuerbefreiung großer Unternehmen, off-shore-Vermögen, Umgehung der Erbschaftssteuer). Das zeigt sich auch dann, wenn Vermögende z.B. große Stiftungen machen: sie geben „freiwillig“, aber entscheiden dadurch selber, auf welchen gebieten sie altruistisch sein wollen. Diese Ungleichheit ist sozialpolitisch nicht mehr zu bewältigen; sie ist nicht mehr „demokratiekompatibel“, sie ist nicht einmal mehr „kapitalismuskompatibel“!

Fazit: Wir müssen wieder „ungleichheitssensibler“ werden!

II: Schlussfolgerung von Lars Castelucci, MdB, in 3 Punkten:

  1. Wir sind die Partei, die auf Emanzipation setzt.
  2. Wir müssen die Solidarität der Zivilgesellschaft organisieren, „Gesellschaft zu sich selbst befreien“, indem wir mehr Freiräume schaffen (z.B. Familienzeit als „Zeit zum Atmen“ verstehen)
  3. Der Sozialstaat darf nicht als Bürokratie erlebt werden, sondern er muss Helfer sein. Grundsicherung und Eigenverantwortung gehören zusammen.

III. Mögliche Ansätze:

Lars Castelucci: Verbindung von Reparatur und emanzipatorischem Ansatz; Beispiele:

  • Ich-AG beleben
  • Jugendliche in Arbeit bringen durch „kooperatives Management“ von Schule und Betrieb
  • „Job Scouts“
  • sozialen Arbeitsmarkt in würdiger Form schaffen, deshalb sozialversicherungspflichtig
  • nicht nur Nachsorge, sondern mehr Vorsorge
  • „Fortschrittsforum“ relevanter gesellschaftlicher Gruppen

Möhring-Hesse: Vermögenspolitik muss so gestaltet werden, dass auch die Super-Reichen am Steueraufkommen beteiligt sind. Da der steuerliche Ausgleich nicht ausreicht, sollte man zusehen, dass Vermögenserträge in die öffentliche Hand kommen (öffentliche Beteiligung am Produktionskapital, z.B. Kapital an die Belegschaft des Unternehmens, öffentliche Dividende).

Fazit: Zugehörigkeit hängt nicht nur von den Instrumenten ab, sondern auch von der Art ihres Einsatzes.

Angela Madaus

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