Wachstum – das „Goldene Kalb“ der Moderne?

Veröffentlicht am 18.10.2011 in Allgemein

Theologischer Impuls zum Erntedankgespräch „Christen und SPD - 2011

Wachstum – das „Goldene Kalb“ der Moderne? Bei genauerer Betrachtung scheint der Wachstumswahn allerdings so alt wie die Menschheit selbst.

Das „Goldene Kalb“, von dem die Bibel im Buch Exodus erzählt, war auch nichts anderes als das Symbol unendlicher Fruchtbarkeit und nie endenden Wachstums.

Das Volk Israel hat diesen Wahn in der Sklaverei in Ägypten auf den eigenen Knochen abgekriegt, als die Treiber auf die Zwangsarbeiter eingedroschen haben, um mehr Produktivität zu erzielen.

Mit knapper Not diesem Elend entronnen, trifft das Flüchtlingsvölkchen beim Exodus auf die palästinensischen Stämme mit ihren Fruchtbarkeitsreligionen, in denen man die „Baale“ als Götter verehrte und ihnen Opfer brachte.

Später bekommt es Israel mit Babel zu tun, dem Zentrum wirtschaftlicher und politischer Macht, das sich alles unterwirft und das halbe Volk Israel ins Exil entführt.

Die römische Zwangsherrschaft nicht zu vergessen, die den ganzen Mittelmeerraum terrorisierte und Land und Leute ausquetschte bis aufs Blut.

Und nun kommen wir in einem riesigen Zeitsprung auch schon an in der sogenannten „Moderne“, wie sie altbackener nicht sein könnte: Im Turbo- und Casino-Kapitalismus von heute.

Mit einem Unterschied: Hier geht es nicht mehr nur um reales, sondern da genügt schon virtuelles Wachstum. Denn die Finanzwelt hat sich von der realen Wirtschaft längst losgerissen, treibt mit sich selber Handel, generiert Wachstum aus heißer Luft. Wenn das nicht ein echter Fortschritt ist...

Immer schon gerieten die Wachstumssysteme in Erklärungs- und Legitimationszwänge. Dann hüllte man sich gerne in die Aura religiöser Symbole. An der Seite der Gottheiten, so glaubte man, sei man sakrosankt und unangreifbar. Das älteste und bekannteste Symbol ist das „Goldene Kalb“, in Wirklichkeit der goldene Stier vom Sinai, den sich das Volk aus den Geschmeiden der Frauen gegossen hatte, während Mose sich auf dem Berg seinem Gott stellen uns ausliefern musste. Übrigens: Schon dass die Geschmeide der Frauen dran glauben mussten, verrät etwas Wesentliches: Die Schönheit, die Anmut, die „Geschmeidigkeit“ und Schönheit des Lebens gehen hops um des Wachstum willen. Dem muss alles Unproduktive untergeordnet werden. Doch dies nur am Rande.

Mit dem „Goldenen Stier“ wird unendliche Fruchtbarkeit symbolisiert. Denn dieses Tier hat keine andere Aufgabe als zu fressen und Nachkommenschaft zu zeugen, und dies nicht zu knapp! Und das tut es in geiler Gier. So maßlos wie die Spekulanten von heute in der Jagd nach Renditen und in der Erfindung neuer „Intelligenter Finanzprodukte“. Nicht umsonst ziert justament dieser Goldene Stier die Frankfurter Börse. Diese Symbolik erklärt eigentlich schon alles, man hat nichts zu verbergen!

Zwei „Alleinstellungsmerkmale“ - was für ein hübsches neudeutsches Wort – kennzeichnen Israel und grenzen es scharf ab von seiner Umgebung:

Das erste ist der „Ein-Gott-Glaube“. Statt anonymen Mächten ausgeliefert zu sein, verrät der jüdische Gott seinen, wenn auch rätselhaften Namen. Und schafft personale Beziehung. Er ist ein Gott, mit dem man reden und streiten kann.

Das zweite ist ein neues „Organisations-Modell“: „Wachstum“ wird durch „Gerechtigkeit“ ersetzt. Bei Jeremia ist Gerechtigkeit einer der Namen Gottes. Er ist verschmolzen mit Gerechtigkeit. Auf diesen Namen hört der Gott der Juden und der Christen, auf dieses Programm hin springt er an. Er möchte seine Gerechtigkeit widergespiegelt sehen in der Gerechtigkeit des Volkes.

Warum „Gerechtigkeit“ dermaßen zentrale Bedeutung erhält, hängt mit dem Ökonomie-Modell der Bibel zusammen. Es lautet: „Es ist genug für alle da...“ Immer wieder preisen die Psalmen die Fülle der Schöpfung, Öl und Wein und Korn, satte Herden auf den Weiden. Auch das „Leben in Fülle“, das Jesus verheißt, meint schon „gutes Leben“ in dieser irdischen Wirklichkeit.

Diese Ökonomie des „Genug“ ist an zwei Bedingungen geknüpft, damit sie wirklich zum Tragen kommt:

Die Reichtümer der Erde sind über Arbeit zu heben und zugänglich zu machen im Sinne des biblischen Auftrags, die Erde zu „bebauen und zu bewahren“. Ihr abzuringen, was wir nötig haben und gleichzeitig ihre Ressourcen zu schonen.

Und an zweiter Stelle: Die Erträge gerecht zu verteilen.

Dieses biblische biblische Ökonomie-Modell ist „Anti-Kapitalismus pur“. Wir wissen: Weder Juden- noch Christentum haben sich dieses Erbe bewahrt, geschweige denn gepflegt oder weiter entwickelt. Erinnert sei nur an die leidige Zins-Frage, die in beiden Kirchen hängen geblieben und nicht ausreichend reflektiert ist – im Unterschied zu den „Scharia-Banken“, die mit ihrem Zinsverbot souverän durch die Finanzkrise gekommen sind.
Dabei dürfte klar sein, dass die Zins- und Zinseszins-Mechanik den Wachstumswahn beschleunigt, weil immer Kapitalrenditen mit bedient werden müssen.

Auch die Bibel des Neuen Testamentes fußt auf dieser Leitidee der Gerechtigkeit:

Der ärgerliche Tarif-Konflikt im Gleichnis von den „Arbeitern im Weinberg“ (Mt 20) fordert einen existenzsichernden Mindestlohn für alle, die Beteiligung aller Erwerbsfähigen und -willigen und die Reduzierung der Vollerwerbsarbeit, denn sie lohnt nicht mehr, weil das Leben auf der Strecke bleibt. Die „Ökonomie des Genug“ bedeutet für alle: Es reicht! Es ist genug! Ein Wort, das im Wortschatz des Kapitalismus fehlt.

Das Gleichnis vom reichen Kornbauern (Lk 12) verurteilt die Spekulation mit Lebensmitteln. Getadelt wird ja nicht der Fleiß des Bauern, erst recht nicht die gute Ernte, sondern vielmehr seine Absicht, das Getreide zu horten, um es in Zeiten der Not mit Höchstpreisen auf den Markt zu werfen.

Mit der Tempelreinigung (Mt 21) attackiert Jesus das ausbeuterische, monopolistische Tempelsystem, die Steuer-, Währungs-, Zins-Zentrale mit angeschlossenem Supermarkt, Großschlächterei und Gastronomiebetrieben. Ein gewaltiger Konzern in der Hand der Priester-Kaste. Klar, wer sich da vergreift, wird nicht überleben.

Auf dem Hintergrund der biblischen Botschaft hat die Christenheit allen Grund, kapitalismuskritisch zu sein, wie es ja auch Kath. Soziallehre und ev. Sozialethik immer wieder durchscheinen lassen.

Daraus leite ich im Blick auf eine zaghafte Debatte, die sich nun mit einer Wirtschaft jenseits des Wachstums befasst, folgende Handlungsperspektiven ab:

Es ist genug für alle da. Das bestätigt auch das Wuppertal-Institut zumindest noch bis zu 8 Mrd. Menschen.
Sie können nicht nur überleben, sondern hätten gut zu leben, wenn wir nicht Wachstum, sondern Gerechtigkeit als Organisationsprinzip installieren.
Wachstum ist natürlich nicht in sich schlecht, aber es ist begrenzt. Welches Wachstum nötig ist und intendiert werden soll, muss im gesellschaftlichen Diskurs entschieden werden.
Es geht um den „Primat der Politik“, die Wiederkehr der Gerechtigkeit. Einer Politik allerdings, die sich nicht freiwillig zum Spielball der Kapitalmärkte degradieren lässt, sondern rigide reguliert.

Als Christen und Christinnen sollten wir ebenso wie als SPD-Mitglieder eine neue „Werte-Debatte“ inszenieren.

Wirtschaft ist im internationalen Konsens neu und verbindlich zu definieren: Sie ist kein Bereicherungsinstitut für wenige, sondern steht für „Gutes Leben“ für alle. Sie hat dem Gemeinwohl zu dienen, möglichst alle an der Erstellung des „Produkts“ zu beteiligen und die Ressourcen zu schonen.

Das Geld muss offensichtlich noch einmal neu erfunden werden: Es hat der Real-Wirtschaft zu dienen und muss mit ihr verkoppelt werden. Es ist Tauschmittel und nicht virtueller Wertspeicher. Die Bereitstellung von Geld, die Wahrung der Geldwertstabilität sind Sache der Öffentlichen Hand und dürfen nicht dem Markt anheimgestellt werden.

Der Staat bzw. die Staatengemeinschaften müssen mit ihrer eigentlichen Aufgabeneu konfrontiert werden, nämlich der Schaffung und der Garantie sozialer Gerechtigkeit.

Paul Schobel, Betriebsseelsorger

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