Veranstaltungen 2004

Soziale Gerechtigkeit verlangt Solidarität und Aufklärung

Arbeitskreis Christinnen/Christen der SPD Baden-Württemberg diskutiert beim zehnten „Gespräch zum Erntedank“ über „Soziale Gerechtigkeit heute“

Von Christoph Ludwig

Stuttgart. „Soziale Gerechtigkeit erhöht ein Volk“, lautet die klare biblische Aussage, die auch in unserer Zeit gilt und mehr denn je an Bedeutung gewinnt. Gleichwohl stellt sich in Zeiten leerer Kassen immer mehr die Frage, ob der „soziale Rechtsstaat“, wie es das Grundgesetz formuliert, noch bezahlbar ist. „Wir müssen den Menschen deutlich sagen, dass Soziale Gerechtigkeit Solidarität verlangt und keine Dauerabhängigkeit von Fürsorge sein kann“, sagte Ute Vogt, MdL und Landesvorsitzende der SPD, im diesjährigen Streitgespräch zum Erntedank in Stuttgart am 8. Oktober 2004. Veranstalter des insgesamt zehnten Gesprächs zum Erntedank über „Soziale Gerechtigkeit heute“ war der Arbeitskreis Christinnen/Christen der SPD Baden-Württemberg. „Hartz IV“ etwa müsse als Steuerhilfe zum Wiedererlangen von Leistungsfähigkeit und Teilhabe an der Gesellschaft erklärt und verstanden werden und sei daher bei durchaus berechtigter Kritik ein guter Weg. Soziale Gerechtigkeit messe sich daran, ob der Einzelne Möglichkeiten zur Gesellschaftsteilhabe bekomme. „Der Sozialstaat geht zwangsläufig zugrunde, wenn den Schwachen in der Gesellschaft nicht geholfen wird“, sagte Vogt. Gleichwohl fehle in weiten Bevölkerungskreisen der dafür nötige Solidargedanke und gesellschaftspolitische Weitblick. Einen guten Weg sieht die SPD-Landesvorsitzende in der Einführung einer „Solidarischen Bürgerversicherung bis etwa 2010“, da sie die Schwachen stützen würde.

Rolf Lehmann, ehemaliger Ministerialdirektor im Sozialministerium Baden-Württemberg und früherer Stuttgarter Wirtschaftsbürgermeister, sprach von „jahrzehntelangen sozialen Irrtümern, denen wir uns als Christen endlich stellen müssen“. Statt der Maxime des gleichen Wohlstands aller bedeute Soziale Gerechtigkeit für jeden Einzelnen ein hohes Maß an Eigenverantwortung. „Menschenwürde durch Selbstverantwortlichkeit“ sei schließlich das Anliegen der SPD schlechthin. „Wenn Reiche und Arme gleichermaßen ihren biblisch gemeinten „Zehnten“ einbringen, dann kann sich die derzeit katastrophale Grundstimmung in unserer Gesellschaft ändern“, sagte Lehmann. Den Gewerkschaften warf der ehemalige Ministerialdirektor „ein totales Versagen gegenüber den Benachteiligten unserer Gesellschaft“ vor. Doch auch die Gesellschaft selbst gefalle sich in Anspruchsdenken und Versicherungsmentalität, die den Armen wenig helfe.

Die Möglichkeit der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sieht Hartmut Fritz, Präsidiumsmitglied des Diakonischen Werkes Württemberg und Vorstandsvorsitzender der Samariterstiftung, als Voraussetzung für Soziale Gerechtigkeit. „Grundlage dafür ist ein kommunikatives Gemeinwesen, sonst bleiben die Betroffenen allein und hoffnungslos“, sagte Fritz. Dabei müsse heute der Blick über den Tellerrand hin zu einer Globalen Gerechtigkeit gehen, sonst könne Soziale Gerechtigkeit auf Dauer nicht gelingen. Eine „Kirche des Wortes“ müsse dabei zur „Kirche der wirksamen Zeichen“ werden, denn Diakonie liege laut Dietrich Bonhoeffer schließlich im „Beten und Tun des Gerechten“. „Wir müssen den Menschen klar sagen, dass die Sozialreform „Hartz IV“ zwar Beschäftigung, aber keinen einzigen Arbeitsplatz schafft“, so der Theologe, der ein „Hartz mit Herz“ anmahnte.

Das „Menschenrecht auf Arbeit“ sei der Prüfstein für Soziale Gerechtigkeit, sagte Dieter Rilling, langjähriger Leiter des Stuttgarter Sozialamts. „Würde das Gebot der Gerechtigkeit in der Politik vorrangig gelten, brächte dies allein schon mehr Soziale Gerechtigkeit“, ist der ehemalige Sozialdezernent überzeugt. Dies müsse sich etwa in der Erfüllung von soziokulturellen Mindeststandards zeigen, die die Menschen von Existenzängsten befreien könnte. Die Besserverdienenden dazu in die Verantwortung zu nehmen könne jedoch nur gelingen, wenn der Staat mit ihrem Geld ein tragendes Sozialsystem schaffen würde. „Da liegt vieles im Argen“, meinte Rilling, der in der Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld zu „ALG II“ lediglich einen „bescheidenen Anfang nötiger Schritte“ sieht.

Für ein glaubwürdiges Handeln in Politik und Kirche

Parlamentarischer Abend mit Vertretern von Kirche und SPD: auf der Suche nach Gerechtigkeit

Von Wolfram Keppler

Den Dialog fördern zwischen Kirche und Sozialdemokraten – das ist eines der wichtigsten Ziele des Gesprächskreises „Christen und SPD“. Gestern trafen sich in Stuttgart Vertreterinnen und Vertreter beider Seiten, um kontrovers darüber zu diskutieren, wie soziale Gerechtigkeit „heute definiert werden muss“. Deutlich wurde, dass auf allen Seiten die Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit in der öffentlichen Diskussion Grundvoraussetzungen für eine zukunftsfähige Gestaltung von Gesellschaft sind. Vorausgegangen waren der Aussprache Besuche der Parlamentarier in verschiedenen sozialen Einrichtungen, angefangen von der „Neuen Arbeit“ bis hin zum Sozialpsychiatrischen Dienst.

Stuttgart, den 6. Oktober 2004. „Wo die Gerechtigkeit verletzt wird, da wird das Gemeinwesen krank“, mahnte Oberkirchenrat Helmut Beck gleich zu Beginn des gut besuchten Parlamentarischen Abends in den Räumen der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart. Kirche müsse deshalb immer Partei für die Schwachen und Verfolgten ergreifen, auch wenn ihr das, zugegebenermaßen, nicht immer gelinge und oftmals die Angst, ins Hintertreffen zu geraten, groß sei. „Wir müssen uns zu Wort melden, weil in Deutschland wachsende Armut unser Leben bestimmt“. Gerechtigkeit, das sei in der Bibel immer ein „Beziehungsbegriff“, der Solidarität mit und Zuwendung für Gedemütigte bedeute.

Auch für den SPD-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Drexler ist Gerechtigkeit immer „Verteilungsgerechtigkeit“, die auch die „Fähigkeit zum Mitleiden mit Randgruppen“, wie es Willy Brandt einmal formuliert habe, beinhalte. Dennoch gelte es auch, die Tatsachen zu sehen angesichts einer immer älter werdenden Gesellschaft und den Auswirkungen der Globalisierung. „Wir haben über viele Jahre über unsere Verhältnisse gelebt“, so Drexler selbstkritisch. Er selbst halte das Gerechtigkeits-Thema „für eine Überlebensfrage“ der SPD.

Dass trotz aller inhaltlicher Diskussion der Umgang mit den vorhandenen finanziellen Ressourcen sowohl in Politik als auch in Kirche, Diakonie und Caritas das Handeln bestimmt, machten die Vertreter aller Seiten deutlich. Ein Spannungsverhältnis, das Klaus-Dieter Kottnick, Vorstandsvorsitzender der Diakonie Stetten, mit diesen Worten deutlich machte: „Ich muss ein großes Unternehmen führen, mit dem bestehenden Geld auskommen und darf dabei meine Ansprüche nicht aufgeben“. Auch Heinz Gerstlauer, Vorstand der Evanglischen Gesellschaft Stuttgart berichtete von „heftigen Diskussionen um Prioriäten“ im Angesicht enger werdender Haushaltspläne. Hier erwarte er von seiner Kirche auch, „dass sie deutlicher Stellung bezieht.“

Deutliche Kritik ernteten die Kirchenvertreter unter anderem vom Abgeordneten Frieder Birzele: angesichts der Steuerreform habe die Kirche nicht den Mut gefunden, deutlich zu sagen, dass auch sie sich einen Einnahmenrückgang eigentlich nicht leisten könnte. Auch der frühere Ministerialdirektor Rolf Lehmann zeigte sich verwundert, dass sich die Kirche nicht gegen die seiner Meinung nach absolut „unbiblische Kopfpauschale“, die nichts mehr mit Verteilungsgerechtigkeit zu tun habe, gewehrt habe. Weil sich nach Ansicht von Drexler mit den derzeit vorhandenen finanziellen Mitteln „soziale Gerechtigkeit so nicht mehr herstellen“ lasse, müsse auch die Kirche deutlich sagen, dass Vermögen ungleich verteilt sei und die Starken in Zukunft mehr schultern müssten als Schwache.

Mutlosigkeit und fehlende Bereitschaft zur Erneuerung – das waren Themen, die die weitere Diskussion des Parlamentarischen Abends bestimmten. „Die SPD muss deutlicher zu den beginnenden Reformen stehen und sie klarer begründen“, so der Vorstandvorsitzende der Bruderhausdiakonie, Lothar Bauer. Es brauche eine gemeinsame Leitidee von Gerechtigkeit, die hilfebedürftigen Menschen dauerhafte Sicherheit bezüglich ihrer Versorgung und Teilhabe an der Gesellschaft gebe. Dabei wurde in der Diskussion auch deutlich, dass der sogenannte „zweite Arbeitsmarkt“ für viele Menschen ein dauerhafter, weil ihrer Leistungsfähigkeit angepasster Arbeitsmarkt sei. Deshalb gehe es auch darum, den Anspruch aufzugeben, dass alle Menschen langfristig wieder eine Beschäftigung auf dem freien Arbeitsmarkt finden könnten.

Nur dann, wenn Wahrheiten ehrlich ausgesprochen werden und Politik glaubwürdig ist, lassen sich nach Einschätzung der Diskutanten Veränderungsprozesse nachhaltig etablieren. So glaubt der Geschäftsführer der Neuen Arbeit, Marc Henschke, dass finanzielle Einschnitte dann von der Bevölkerung akzeptiert werden, wenn sie „glaubhaft kommuniziert“ werden. Auf der anderen Seite geht es für Uli Rabeneick auch darum, ehrlich damit umzugehen, dass eine Gesellschaft, die sich viele Millionen Arbeitslose leiste und sie alimentiere, eigentlich „wahnsinnig reich“ sei. Vieles in unserer Gesellschaft geht nach Ansicht der Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Parlamentarischen Abends aber am Menschen selbst vorbei. Das zeigt nach den Worten von Otto Haug, Sprecher des Gesprächskreises „Christen und SPD“ schon die Wortwahl der Programme: „Bei Hartz vier geht es um die Menschen, aber die Menschen kommen dabei überhaupt nicht vor.“

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